Behaviorale und psychologische Symptome der Demenz (BPSD)
Etwa 50 % der Menschen mit Demenz zeigen behaviorale und psychologische Symptome der Demenz (BPSD). Diese umfassen eine Reihe klinischer Manifestationen wie zielloses Umherirren, Verweigerung von Behandlung und Pflege, Logorrhö, Wahnvorstellungen, Reizbarkeit, Aggressivität, Apathie, Angst etc. (BAG, 2019)
BPSD sind nicht ausschliesslich als Folge der Demenz zu interpretieren. Vielmehr handelt es sich um verhaltensbezogene Manifestationen unerfüllter Bedürfnisse, die es zu ermitteln gilt. Beispiel: Eine Bewohnerin / ein Bewohner zeigt eine Logorrhö, weil er oder sie ängstlich ist; eine andere Person wehrt sich gegen Pflegehandlungen, weil die Mobilisation ihr Schmerzen bereitet; eine andere wiederum ist körperlich aggressiv, weil sie Schmerzen hat. Um die Ursache von BPSD zu beurteilen, ist daher ein gutes klinisches Assessment erforderlich. Oft lässt sich bei einem Grossteil der BPSD-Episoden bei Bewohnerinnen und Bewohnern mit bekannter Demenz eine organische Dekompensation als auslösender Faktor feststellen oder es handelt sich um die Folge einer Polypharmazie, der entsprechend nachgegangen werden sollte.
BPSD werden in 2 Kategorien unterteilt:
· Die sogenannte Positivsymptomatik: Agitiertheit, Aggression, Reizbarkeit, Enthemmung, Widerstand, Umherirren, Schreien, psychotische Störungen, Schlafstörungen etc.
· Die sogenannte Negativsymptomatik: Depression, Apathie, Rückzug in sich selbst etc.
Solche Störungen sind einschneidender als der kognitive Verlust. Sie sind umgekehrt proportional zur Lebensqualität der Betroffenen, führen aber auch zu einer erheblichen Belastung der Betreuungspersonen. (Rey, Voyer, & Juneau, 2016)
Die Behandlung von BPSD erfolgt multimodal. Vorrang haben dabei nichtmedikamentöse Therapien, die einen interprofessionellen Ansatz erfordern. (BAG, 2019)
Bei behavioralen und psychologischen Symptomen der Demenz (BPSD) erfolgt von ärztlicher Seite zunächst eine Verhaltensbeschreibung und eine Abklärung möglicher Ursachen.
Nichtpharmakologische Interventionen
Die folgende Tabelle fasst die am breitesten anerkannten nichtpharmakologischen Interventionen zusammen:
Kategorien |
Nichtpharmakologische Interventionen |
Geeignete Kommunikationsstrategien |
Ruhiges Auftreten Kurze Sätze Übereinstimmung zwischen nichtverbalen Signalen und verbalen Äusserungen Initialberührung bei Kontaktaufnahme |
Sensorische Interventionen |
Musiktherapie Aromatherapie Therapeutische Massage und Berührung; Handmassage Snoezelraum (multisensorische Therapie) Lichttherapie |
Strukturierte Aktivierung |
Handwerkliche Beschäftigungen Gartenarbeit und Blumenarrangements Kunsttherapie Auf die Interessen der betroffenen Person abgestimmte Ergotherapie (Servietten falten, Umschläge stempeln etc.) Biografie- oder Erinnerungsarbeit Hantieren von Gegenständen Kognitive Stimulation: Orientierung an der Realität entsprechend den aktuellen Bedürfnissen der Person; Gedächtnisstimulation |
Körperliche Aktivierung |
Gehen Tanzen Gymnastik |
Soziale Kontakte |
Direkter 1:1-Kontakt mit anderen Menschen Tiergestützte Therapie Simulierter Sozialkontakt (Familienfotos, Videos, Tonaufnahmen) |
Umgebungsgestützter Ansatz
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Schaffung einer simulierten Naturumgebung Zugang zu Aussenanlage mit Garten Der häuslichen Umgebung nachempfundene Einrichtung Schaffung räumlicher Bezugspunkte Einbau von Sichtschutzvorrichtungen |
Geeignete Kommunikationsstrategien
Vor dem Sprechen
· Vermindern Sie Ablenkungsquellen in der Umgebung. Drehen Sie beispielsweise die Lautstärke von Fernsehapparat oder Radio herunter.
· Blicken Sie der Person in die Augen und sprechen Sie sie im Gespräch mit ihrem Namen an.
· Führen Sie eine im Team gemeinsam abgestimmte Initialberührung /-geste zur Orientierung durch. Die Berührung ist als Nahsinn sehr wichtig. Als Empfang für nonverbale Botschaften soll sie zur Umweltkontrolle Sicherheit-im-Beziehung-aufnehmen und Begegnungen-gestalten vermitteln, sowie Stress reduzieren. Durch den Initialkontakt lernt der demenziell erkrankte Mensch, dass die Mitarbeitenden nur dann eine Handlung an ihm vornehmen, wenn er zuvor dort berührt wurde. So gewinnt er Sicherheit und kann sich entspannen.
· Vergewissern Sie sich, dass die Person gegebenenfalls ihr Hörgerät oder ihre Brille trägt.
· Manche Betroffene haben Schwierigkeiten, Familienmitglieder oder Freunde zu erkennen. Daher sollten Sie sich am besten vorstellen und die Person daran erinnern, wer Sie sind.
Wie ansprechen?
· Gehen Sie nahe genug an die Person heran, damit diese Ihren Gesichtsausdruck und Ihre Gesten sehen kann.
· Sprechen Sie deutlich und etwas verlangsamt in einfachen Sätzen.
· Stellen Sie konkrete Fragen, die einfach mit «Ja» oder «Nein» beantwortet werden können.
· Seien Sie respektvoll und geduldig.
· Sprechen Sie nicht von oben herab und nicht wie mit einem Kind.
· Reden Sie nicht über die Person, als wäre sie nicht da.
· Versuchen Sie, die Person in das Gespräch mit anderen einzubeziehen.
Wie zuhören?
· Hören Sie aufmerksam zu, was die Person sagt und achten Sie dabei auch auf die nonverbale Kommunikation.
· Seien Sie geduldig und unterbrechen Sie die Person nicht, auch wenn Sie glauben zu wissen, was sie Ihnen sagen will. Wenn die Person Schwierigkeiten hat, Worte zu finden, und es den Anschein hat, dass Hilfe erwünscht ist, können Sie Vorschläge machen.
· Achten Sie darauf, dass die Kommunikation in beide Richtungen erfolgt.
· Beziehen Sie die Person aktiv in das Gespräch ein.
· Stellen Sie keine Mutmassungen an, wenn Sie nicht sicher sind, was die Person sagt. Versuchen Sie, gemeinsam mit ihr herauszufinden, ob Sie richtig verstanden haben.
Andere Kommunikationsmöglichkeiten
· Unterstreichen sie das Gesagte mit Gesten. Wenn es zum Beispiel Zeit für einen Spaziergang ist, zeigen Sie mit dem Finger auf die Tür oder bringen Sie Mantel oder Weste der Person mit, um zu veranschaulichen, was Sie tun möchten. Gesten wie Handzeichen oder das Nachahmen einer Handlung können der Person helfen, das Gesagte zu verstehen.
· Auch Humor kann Sie einander näherbringen und Spannungen abbauen und ist daher von hohem therapeutischem Wert. Gemeinsam über Fehler oder mögliche Missverständnisse zu lachen, hilft beiden Seiten.
· Wenn die Person traurig erscheint, ermutigen Sie sie, ihre Gefühle auszudrücken. Um Ihr Zuwendung zu geben, zeigen Sie ihr, dass Sie sie sehr wertschätzen und gern haben. (Alzheimer Society of Canada, 2019)
Sensorische Interventionen
Die sensorische Stimulation umfasst eine Reihe von Aktivitäten wie Snoezelen,[1] Musiktherapie, Aromatherapie, Tanz, Lichttherapie, Massagen, simulierte Präsenz (Familienvideo) und tiergestützte Therapie. Oft werden solche Interventionen mit anderen Massnahmen kombiniert.
Zum sensorischen Ansatz gehört auch die Hypostimulation. Hierbei handelt sich um pflegerische Massnahmen bei Personen mit einer demenziellen Erkrankung zur Linderung einer Reizüberflutung, die bedingt ist durch Störungen der sensorischen Modulation und Integration mit nachfolgender Hyperreagibilität auf Umgebungsreize. Diese alternative Methode wirkt beruhigend und fördert die Wiederherstellung der sensorischen Selbstregulation und Ausgeglichenheit.
Strukturierte Aktivierung
Hierbei handelt sich um einen allgemeinen sozio-psycho-kognitiven Ansatz zur Stärkung der Restressourcen durch abgestimmtes Training der noch vorhandenen Funktionen. Dazu bietet sich ein breites Spektrum an Aktivierungsmöglichkeiten an, z. B. Buchstaben- oder Puzzlespiele, komplexe Aktivitäten wie Kochen und Gartenarbeit, Erinnerungsrunden, Umgebungsgestaltung (Kalender, Zeitungen, Fotos), Training der Aktivitäten des täglichen Lebens durch praktische Anregung.
Solche Aktivitäten haben sich auch in Kombination mit anderen Massnahmen wie Bewegung oder medikamentösen Behandlungen als wirksam erwiesen.
Auch die Reminiszenztherapie, die sich auf Erinnerungen an lange Zurückliegendes stützt, gehört zur strukturierten Aktivierung.
Körperliche Aktivierung
Regelmässige körperliche Aktivität trägt ebenfalls dazu bei, kognitive Fähigkeiten und Alltagsfunktionen sowie die Lebensqualität zu erhalten, wenn nicht gar zu verbessern. Sie fördert unter anderem Gleichgewichtssinn, Kraft, Körperhaltung, Beweglichkeit und Widerstandsfähigkeit. Oft werden solche Aktivitäten mit anderen Massnahmen kombiniert.
Soziale Kontakte
Die Qualität der Beziehungsinteraktionen sowie die Kommunikationsstrategien wirken sich positiv auf Sprache, Lebensqualität, Interaktionsvermögen und Gesamtfunktion aus.
Bei Erkrankungen, bei denen Sprachstörungen im Vordergrund stehen (semantische Demenz, primär progrediente Aphasie) kann eine Logopädin / ein Logopäde beigezogen werden. Dies kann auch bei Schluckstörungen notwendig sein.
Umgebungsgestützter Ansatz
Durch entsprechende Umgebungsgestaltung lassen sich deutliche Verbesserungen in Bezug auf Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Orientierung und Sprache erzielen. Die Verwendung von Leuchten, Schildern oder anderen auch bei Seh- oder Hörstörungen geeigneten Symbolen erleichtert Menschen mit Demenz die Orientierung innerhalb ihrer Umgebung.
Anhand der folgenden Massnahmen stellen wir sicher, dass die kognitiven Beeinträchtigungen von Bewohnerinnen und Bewohnern mit Demenz dokumentiert werden und die Wirksamkeit der therapeutischen Ansätze überwacht wird:
Nichtpharmakologische Interventionen werden von geschultem Personal durchgeführt und sind Bestandteil der individualisierten Pflegeplanung und des Entwicklungsplans der Einrichtung.
Grundansatz, Verhaltensbeobachtung aus einem anderen Blickwinkel und Strategien zur nichtpharmakologischen Behandlung von BPSD
1. Bereits vor der Anwendung eines nichtpharmakologischen Ansatzes bei BPSD ist sicherzustellen, dass der Grundansatz angemessen ist. Siehe Punkt 9 dieses Kapitels. (Bourque und Voyer, 2013)
2. Wenn der Grundansatz angemessen ist, müssen bestimmte Verhaltensweisen aus einem anderen Blickwinkel hinterfragt werden: Ist eine Intervention wirklich erforderlich? (Bourque und Voyer, 2013)
3. Nichtpharmakologische Interventionen befassen sich mit den Ursachen verhaltensbezogener und psychologischer Symptome: Sie setzen stets eine Evaluierung voraus, in der die Verhaltensweisen beschrieben und mögliche Ursachen festgestellt werden.
4. Mehrere nichtpharmakologische Interventionen zeigten kurzfristig positive Wirkungen bei Bewohnerinnen und Bewohnern: verringerte Agitiertheit, Hebung der Gemütslage, erfolgreiche Krisenbewältigung und verbesserte Lebensqualität.
5. Bei Ausbleiben einer BPSD-Verbesserung wird die betroffene Person im Anschluss an adäquate nichtpharmakologische und pharmakologische Interventionen einem Fachzentrum zugewiesen.
Grundansatz
1. Der Grundansatz ist jederzeit bei allen Bewohnerinnen und Bewohnern zu beachten. (Bourque und Voyer, 2013)
2. Eine nichtpharmakologische Intervention ist nur erforderlich, wenn bestimmte Bedürfnisse nicht befriedigt sind. Sie zielt auf die Ursachen der BPSD und richtet sich nach der persönlichen Vorgeschichte der betroffenen Person. (Bourque und Voyer, 2013)
3. Der Grundansatz ist wie folgt definiert:
Vor der Interaktion:
· Gehen Sie in sich und sammeln Sie sich.
Während der gesamten Interaktion:
· Halten Sie den Kontakt mit der Person aufrecht, durch Blicke, Ansprechen oder Berühren.
· Sorgen Sie für eine ruhige, angenehme Atmosphäre.
· Achten Sie darauf, nicht bedrohlich zu wirken.
· Reagieren Sie schnell auf eine Problemsituation, bevor diese zur Krise eskaliert.
Beginn der Interaktion:
· Nähern Sie sich der Person langsam und ruhig von vorne und begeben Sie sich auf Augenhöhe mit ihr.
· Stellen Sie zunächst Blickkontakt her.
· Vermeiden Sie ein zu schnelles Eindringen in die persönliche Sphäre der Person.
Stimme und Sprache (Liste nicht erschöpfend):
· Stellen Sie sich vor (Name + Position).
· Sprechen Sie die Person stets mit ihrem Namen an.
· Sprechen Sie in sanftem und beruhigendem Tonfall.
· Werden Sie nicht lauter, wenn die Person nicht antwortet.
· Sprechen Sie in kurzen, einfachen und konkreten Sätzen.
· Sprechen Sie langsam und deutlich.
· Geben Sie immer nur eine einzelne Anweisung und warten Sie die Reaktion der Person ab.
· Kündigen Sie der Person an, was Sie vorhaben und erklären Sie ihr das genaue Vorgehen; im Fall von Ablehnung oder verstärkter Unruhe beschränken Sie sich darauf, ihr allgemein zu erklären, was getan wird.
· Vermeiden Sie infantilisierende und herabwürdigende Ausdrucksweisen.
· Stellen Sie eine emotionale Verbindung mit der Person her, indem Sie ein Thema ansprechen, das diese interessiert.
· Vermeiden Sie Wörter, die eine negative Reaktion hervorrufen können (z. B.: «nein», «Bad» etc.).
· Versuchen sie nicht, der Person gut zuzureden.
· Danken Sie der Person für ihre Mitarbeit.
· Seien Sie humorvoll (situationsgebunden).
Gesten und körperlicher Kontakt:
· Machen Sie sich anhand von Gesten, Mimik und Zeigen von Vorgängen verständlich.
· Berühren Sie die Person sanft und mit beruhigender Geste und halten Sie sie nicht fest (z. B. durch Hakengriff).
Partizipation und Umgebung:
· Lenken Sie die Person ab und gehen Sie bei Bedarf zu anderen Aktivitäten über.
· Ermutigen Sie die Person zum Mitmachen.
· Vergewissern Sie sich, dass die Person gegebenenfalls ihre Brille oder ihr Hörgerät trägt.
· Versuchen Sie, die betroffene Person von Situationen und anderen Personen fernzuhalten, die BPSD bei ihr auslösen können.
Umdeutung (Reframing) oder Analyse der Situation aus einem anderen Blickwinkel
1. Wenn sich BPSD nicht durch die Vorgehensweise des Personals oder der Angehörigen erklären lassen, ist zu prüfen, ob eine Intervention angemessen ist. (Bourque und Voyer, 2013)
2. Reframing bedeutet, die Situation aus einer anderen Perspektive zu beleuchten, indem man herauszufinden versucht, ob die BPSD ein Risiko für die Person selbst oder für andere darstellen. (Bourque und Voyer, 2013)
3. Wenn durch das Verhalten keine Not oder Gefahr für die Person oder andere besteht, arbeiten Sie an der Wahrnehmung der Angehörigen und der anderen Akteure sowie an dem Unbehagen, das die BPSD bei ihnen hervorrufen. (Bourque und Voyer, 2013)
Grundlegende Interventionsstrategien
Bei Anwendung des Grundansatzes:
· Ergreifen Sie bei erkannter hoher Stressbelastung der Person Massnahmen, um eine Eskalation zu verhindern.
· Erkennen Sie auslösende Situationen und vermeiden Sie diese nach Möglichkeit.
· Nähern Sie sich erregten oder ängstlichen Personen stets von vorn.
· Sprechen Sie die Person aus deren Augenhöhe an.
· Sprechen Sie mit liebenswürdigem, sanftem Tonfall.
· Achten Sie darauf, nicht bedrohlich zu wirken.
· Erklären Sie der demenzkranken Person, was getan wird und warum.
· Beurteilen Sie allfällige Besorgnis, die sich in wiederholten Fragen ausdrücken kann, und reagieren Sie entsprechend darauf.
· Wenn die Stressbelastung steigt, entschärfen Sie die Situation durch einen Aktivitäts-, Tempo- oder Ortswechsel.
· Vermeiden Sie Auseinandersetzungen, da diese die Dinge eher verschlimmern.
· Vermeiden Sie körperlichen Zwang, da dies zu einer Eskalation der Unruhe führen kann.
Individuelle nichtpharmakologische Interventionen
Basierend auf den im Assessment festgestellten Ursachen der BPSD gibt es mehrere Möglichkeiten zum individuellen Eingreifen. Die Wahl der Intervention sollte sich auf folgende Kriterien stützen:
§ die Lebensgeschichte der Bewohnerin oder des Bewohners
§ die verfügbaren Ressourcen personeller (Angehörige und andere Akteure) und materieller Art sowie umgebungsbezogene Ressourcen
BPSD sind eine Manifestation unbefriedigter Bedürfnisse, daher kann hier unmöglich auf alle potenziellen Ursachen von BPSD eingegangen werden.
Pharmakologische Interventionen
Neuroleptika dürfen erst eingesetzt werden, wenn die nichtpharmakologischen Massnahmen nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben.