Pflegephilosophie Gineste-Marescotti® (Humanitude®)
Die Mitarbeitenden unserer Einrichtung sind täglich mit Menschen konfrontiert, die verhaltensbezogene (behaviorale) und psychologische Symptome der Demenz (BPSD) aufweisen: Schreien, Beschimpfen, Kratzen, Kneifen, Apathie, Rückzug in sich selbst etc. Diese Störungen nehmen tendenziell beim Vollzug von Pflegehandlungen zu, insbesondere bei der Körperpflege, die von der Betreuungsperson potentiell fälschlicherweise als Übergriff interpretiert und erlebt wird. Solche Verhaltensweisen entspringen einer defensiven Haltung. Die Person mit Demenz weiss möglicherweise nicht mehr, wo sie ist, erkennt die Betreuungsperson nicht und begreift nicht, was ihr widerfährt. Ihre Reaktionen beruhen auf einer Fehlinterpretation der Situation, bedingt durch die kognitiven Beeinträchtigungen, durch welche Menschen mit demenziellen Erkrankungen besonders empfindlich werden für die paraverbalen (Tonfall) und nonverbalen Elemente der Interaktion (z. B. die Haltung der Pflegeperson und die Art und Weise, wie diese sie berührt).
Um diesen Verhaltensstörungen vorzubeugen und ein positives Erleben von Pflegehandlungen zu fördern, wenden wir in unserer Einrichtung die Pflegemethode nach Gineste-Marescotti® an.
Der erste Grundsatz dieser Methode besteht darin, angemessen auf die kognitiven Beeinträchtigungen der Person, die sie überempfindlich für die paraverbalen und nonverbalen Botschaften beim Umgang mit ihr machen, zu reagieren. Diese Reaktion soll es der Person ermöglichen, die Pflegehandlung nicht als Aggression, sondern als Zuwendung zu interpretieren. Dabei kommen gezielt Blick, Ansprache und Berührungen zum Einsatz. (Luquel, L., 2008)
Humanitude® stützt sich auf folgende 4 Säulen:
– Blickkontakt: Er bildet den wichtigsten Kanal der Humanitude-Methode. Unser Selbstbild entsteht durch die Augen der anderen. Durch einen Blick erhalten wir Bestätigung. Nicht angeschaut zu werden, heisst, ignoriert zu werden. Eine Person mit einer demenziellen Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium sucht nicht mehr automatisch den Blickkontakt zum Gegenüber, da ihr Gesichtsfeld durch das Tunnelsehen wie beim Blick durch eine Röhre eingeschränkt ist. Alle Mitarbeitenden (Pflegekräfte, Assistenz- und Betreuungskräfte, Mitarbeiterinnen aus dem Sozialdienst, Hauswirtschaft und Verwaltung) achten darauf, ihren Blick in Bezug auf emotionale (liebevoll, zärtlich, anerkennend, fürsorglich) und technische Merkmale (auf Augenhöhe, von vorne, nahe und lange) zu schulen. Sie achten auch darauf, die Betroffenen auf deren Höhe (horizontal) und aus einer Nähe von ca. 50 cm mindestens 3 Sekunden lang anzusehen, um ein gleichberechtigtes Beziehungsverhältnis zu schaffen. Sie blicken die Bewohnerinnen und Bewohner «auf Augenhöhe» und nicht von oben herab an. (Luquel, L., 2008)
– Ansprache: Die verschiedenen sprachlichen Codes, die uns unsere Eltern von Geburt an übermitteln, nähren unsere konzeptionelle Kompetenz und unsere Beziehung zur Welt. Mündliche Kommunikation umfasst Wörter und Tonfall. Bei unzureichendem Verständnis des Gesprochenen flacht das Interesse am Gegenüber ab und es stellt sich allzu oft Schweigen ein. Unsere Mitarbeitenden (Pflegekräfte, Assistenz- und Betreuungskräfte, Mitarbeiterinnen aus dem Sozialdienst, Hauswirtschaft und Verwaltung) achten darauf, verstärkt verbal zu kommunizieren und dabei den angemessenen Ton zu verwenden. Dieser besteht in einem sanften, warmen Tonfall, der das emotionale Gedächtnis der betreuten Person anspricht. Dieses Gedächtnis bleibt von der Geburt bis zum Tod erhalten. Häufig lässt bei dieser Technik das Schreien – ein Ausdruck von Angst, Einsamkeit oder Verlassensein – nach und es stellen sich eine Beruhigung auf körperlicher (Entspannung von Gesichts- und Körpermuskulatur) und psychischer Ebene (hört auf zu schreien, lächelt) sowie ein Sicherheitsgefühl ein. Die Mitarbeitenden achten im Übrigen darauf, ihre Pflegehandlungen (auch nonverbal, z.B. durch eine Initialberührung) anzukündigen und bei der Durchführung zu beschreiben und auf diese Weise die Kommunikation aufrechtzuerhalten, ohne eine Antwort zu erwarten. Durch dieses Ankündigen und Beschreiben der Handlungen kann die verbale Kommunikationszeit um den Faktor sieben bis acht erhöht werden. Damit lässt sich bereits oft verhindern, dass sich bei der betagten Person durch die Stille ein Gefühl von Unbehagen oder Bedrohung einstellt. (Luquel, L., 2008)
– Berührung: Die Fachperson muss lernen, andere in ihrem Menschsein zu berühren. Die Berührung durch die Pflegenden wird bei diversen Methoden als Aspekt der emotionalen Pflege berücksichtigt. Unsere Pflegekräfte berühren vorzugsweise mit dem «Wiegengriff» (im Gegensatz zum «Zangengriff»). Dieser ist progressiv (es werden nicht gleich sensible oder intime Bereiche berührt), anhaltend (der einmal hergestellte Kontakt wird aufrechterhalten) und beruhigend (eine sanfte Berührung, die sich über grosse Abschnitte des Körpers zieht). Dieses Berühren reduziert sich nicht auf eine zweckgebundene technische Geste, es wird vorgeschlagen und nicht aufgezwungen; so wird es zu einer zwischenmenschlichen, einer «liebkosenden Berührung». (Luquel, L., 2008)
– Vertikalität: Die vierte Säule der Methode Humanitude ist die Vertikalität. Die Vorstellung vom «Menschen in der aufrechten Position» appelliert an das Selbstwertgefühl und fördert die Aufrechterhaltung der Propriozeption. Wir vermeiden es nach Möglichkeit, die Körperpflege im Bett vorzunehmen und vertikalisieren unsere Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz so oft wie möglich. (Luquel, L., 2008)
Die Pflegezeit, in der die verschiedenen Techniken betreffend Blick, Ansprache und Berührung kombiniert eingesetzt werden, wird wiederum in drei Abschnitte unterteilt, um drei Phasen besser gegeneinander abzugrenzen: (Luquel, L., 2008)
1. Vorbereitung auf die Pflegehandlung: Vor Beginn einer Pflegehandlung stellen wir einen Kontakt her, der es uns ermöglicht, die Zustimmung der Person einzuholen. Erfolgt keine Zustimmung, wird die Pflegehandlung aufgeschoben. Diese sinnliche Abklärung erfolgt über die drei Humanitude-Säulen (Blick-Ansprache-Berührung) und stellt die Voraussetzung für jede Art von Pflegehandlung dar. Wenn diese Vorarbeit nach drei Minuten noch nicht zur Zustimmung der betroffenen Person geführt hat, wird die Pflegehandlung aufgeschoben. (Luquel, L., 2008)
2. Sinnliche Rückkopplung: Sie ist kennzeichnend für die während der Pflegehandlung kombiniert zum Einsatz kommenden Techniken und beschreibt das Lösen von Verspannungen, das sich einstellt, wenn mindestens zwei Sinneswahrnehmungen den im emotionalen Gedächtnis gespeicherten Eindruck von Geborgenheit und Wohlbefinden auslösen. (Luquel, L., 2008)
3. Emotionale Konsolidierung: Schlussphase der Pflegehandlung; der Moment, in dem die pflegende Person explizit und mit positivem Nachdruck den erfolgreichen Verlauf der Pflegehandlung quittiert. Damit soll über das emotionale Gedächtnis eine positive Gefühlsmarke gesetzt werden. (Luquel, L., 2008)
Diese Pflegemethode ermöglicht es, pathologisch agitiertes Verhalten um mehr als 90 % zu reduzieren. (Luquel, L., 2008)